Individuation

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Aus dem Unbewussten aufsteigende Geflügelte Sonne des Bewusstseins[1]

Der Begriff Individuation ist einer der zentralen Begriffe aus der Analytischen oder Komplexen Psychologie Carl Gustav Jungs, welcher die moderne bzw. Psychologische Astrologie stark beeinflusste. Bezeichnet wird damit der psychische Reifungsvorgang eines Menschen, analog zu seinem körperlichen Wachstums- und Alterungsprozess.[2]

Psychologie

Nach Jung ist die Individuation "...ein Differenzierungsprozess, der die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zum Ziele hat".[3]: "Jedes Leben ist schließlich die Verwirklichung eines Ganzen, das heißt eines Selbst, weshalb man die Verwirklichung auch als Individuation bezeichnen kann. Denn alles Leben ist an individuelle Träger und Verwirklicher gebunden und ist ohne solche schlechthin unvorstellbar. Mit jedem Träger aber ist auch eine individuelle Bestimmtheit und Bestimmung gegeben, und es macht den Sinn lebendiger Existenz aus, dass sie als solche sich verwirkliche."[4]

In der Selbst-Entwicklung notwendige Verarbeitungskraft und Differenzierungsfäigkeit[5]

Die Individuation tritt auf als spontaner wie autonomer und natürlicher Ablauf in der Psyche, dessen man sich meist nicht bewusst ist[6]. Sie erscheint als lebenslanger seelischer Entwicklungs- und Reifungsvorgang durch die verschiedenen Stationen der archetypischen Bereiche, also in der Begegnung wie Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten, mit der Anima/ dem Animus ("Seelenbilder") und schließlich mit der "Großen Mutter" bzw. dem "Alten Weisen"[7]. Durch die im Individuationsweg angeregten inneren Wandlungsprozesse können allmählich z.B. die sogenannten Schatten-Anteile oder die Anima/ der Animus integriert bzw. die seelischen Gegensätze, auch spannungsreich und dynamisch, geeint werden.

Ein typisches Beispiel dafür wäre, wenn das kindlich-einfache Frauenbild eines jungen Mannes im Laufe der Jahre durch seine Lebenserfahrungen um die anderen weiblichen Archetypen (z.B. die der Geliebten oder Ehefrau) erweitert bzw. differenziert wird.[8]

Der Individuationsprozess kann in zwei zeitlich aufeinanderfolgende Abschnitte unterteilt werden: Der erste meint die Jahre bis zur Lebensmitte, wo normalerweise die Entwicklung der Persona und Ausbildung des Ich wichtig ist, die "Initiation in die äußere Wirklichkeit" (Jolande Jacobi). Der zweite Abschnitt nach der Lebensmitte stellt die Selbstreflexion, eine Vertiefung der Menschenkenntnis in den Vordergrund, und führt zur "Initiation in die innere Wirklichkeit" (Jolande Jacobi). Der eigentliche Individuationsprozess findet nach Jung erst in der zweiten Lebenshälfte statt.[9]

Das Ziel der Individuation ist das Selbst, d.h. die entfaltete Persönlichkeit. Allerdings kann jeder persönliche Reifungsweg gehemmt, verhindert oder verbogen werden.[10] Heutzutage lässt sich der Individuationsprozess durch psychotherapeutische Maßnahmen unterstützen. Eine gelungene Individuation zeichnet sich nach Jung dadurch aus, dass man sich bei aller persönlichen Individualität ebenso erfolgreich an verschiedene kollektive oder Gemeinschafts-Normen anpassen konnte. Der pure Egozentrismus oder Individualismus, der den persönlichen Weg zur alleinigen Richtschnur erhebt, ist damit erkennbar nicht gemeint. Der Individuationsweg liegt gerade zwischen den Extrem-Positionen des Individualismus und des Kollektivismus bzw. den Anforderungen der Gemeinschaft.[11]

Tantrisches Shri Yantra[12]. Für das Selbst typisches, aus Vierheit/ Kreuz und Kreis bestendes Mandala

Astrologie

Ein guter Teil der modernen (psychologischen) Horoskopdeutung in der astrologischen Beratungspraxis zielt auf den Individuationsprozess. Die Vielschichtigkeit des Individuationsweges war und ist mit ein Grund, warum dieses Konzept der Analytischen Psychologie weniger deutlich als ein wichtiger Teil der modernen oder Psychologischen Astrologie erscheint, als es tatsächlich ist.

Der an C.G. Jung orientierte amerikanische Astrologe Dane Rudhyar bemerkte in Astrologie und Psyche, dass "die Astrologie als ein Mittel zur Selbstverwirklichung, als eine starke Hilfe im Prozess der Individuation, verwendet werden kann"; [...]"Mit anderen Worten, die Astrologie zeigt also der sich entwickelnden Persönlichkeit, die vielleicht im Dunkeln tappt oder psychisch unreif ist, den Archetyp ihrer latent vorhandenen Individualität" - das, was sie sein werde, wenn sie ihre Potentiale voll ausschöpft.[13] Daran angelehnt sieht auch Claus D. Stahl das Horoskop als einen wichtigen Wegweiser auf dem persönlichen Indviduationsweg.

Da der Prozess der Individuation praktisch nie abgeschlossen ist, erfordert eine ganzheitliche Sicht auf das Geburtshoroskop stets die Beachtung wie Integration möglichst vieler Horoskopfaktoren. Dabei brechen zwangsläufig innere Widersprüche und Spannungen auf. Gänzlich individuell, "ureigen" zu werden, bedeutet für den Horoskopeigner manchmal aber auch, gegen gesellschaftliche Konventionen zu verstoßen. Die verschiedenen Horoskopelemente - wie die Zeichen oder Planeten - sind dabei verstehbar als psychologische Archetypen, die den Individuationsprozess einerseits begleiten und zugleich erkennbar machen. Die "Konvertierung" - überhaupt Bewusstwerdung - problematischer, unbewusst gelebter oder nur passiv erlittener Horoskopkonstellationen bleibt eine lebenslange Übung, verbunden mit vielerlei Erfahrungen, geistigen wie seelischen Wachstums- und Transformationsphasen.

Brigitte Romankiewicz sieht die Individuation als "Verantwortung für sich selbst, die in Verantwortung gegenüber dem Ganzen mündet", und ordnet ihr die "Mittelachse" eines Geburtshoroskops zu - d.h. die Kombination aus dem vierten und dem zehnten Haus, den diese Häuser bestimmenden Tierkreiszeichen, sowie den Planeten darin.[14]

Darstellung eines Labyrinths[15]

Weblinks

Literatur

  • Romankiewicz, Brigitte: Spielfeld der Götter. C.G. Jungs Archtypenlehre und die Astrologie. Chiron-Verlag, Tübingen 2002

Quellen und Anmerkungen

  1. Abbildung aus dem alchemistischen Rosarium Philosophorum (ca. 1550), die Stufe der illuminatio anzeigend. Zugehöriger Text: "Hier stirbt Sol erneut, ertränkt vom Mercurius der Philosophen." Siehe commons.wikimedia
  2. Jolande Jacobi: Die Psychologie von C.G. Jung. Zürich 1959, S. 165
  3. Jung zitiert nach: Ludwig J. Pongratz, Hauptströmungen der Tiefenpsychologie. Stuttgart 1983, S. 345
  4. C.G. Jung, Psychologie und Alchemie, in: Gesammelte Werke, Band 12, Olten/ Freiburg 1984, S. 259
  5. Zur Vermeidunng geistiger Verwirrrung. Alchemistische Abbildung
  6. Jacobi, S. 164
  7. Jacobi, S. 168ff., S. 176ff. und S. 192ff.
  8. Pongratz, S. 345
  9. Jacobi, S. 167
  10. Jacobi, S. 165
  11. Pongratz, S. 346
  12. Kurzdeutung: Oben und Unten, Innen und Außen begegnen einander/ überschneiden sich auf mehreren Ebenen oder Schichten
  13. Rudhyar:, S. 51f.
  14. Romankiewicz, S. 131
  15. Alchemistische Abbildung. Individuation erfolgt in der Regel nicht geradlinig, sondern in einer Umkreisung der seelischen Mitte, in allmählicher Annäherung an das Ziel, von verschiedenen, oft widersprüchlichen Seiten aus, über Irrungen und Wirrungen