Sensitiver Punkt
Synonyme: Arabischer Punkt, Griechisches Los
Ein Sensitiver Punkt im Horoskop ist ein Deutungsfaktor, der als energetisch wirksam gilt, obwohl an der betreffenden Stelle kein physischer Himmelskörper steht.
Die seit der Antike gebräuchlichen "arabischen Punkte" bzw. "griechischen Lose" geben Auskunft über bestimmte allgemein gültige Themen im individuellen Horoskop. Die bekanntesten unter ihnen sind der Glückspunkt, der Berufspunkt, der Liebespunkt, der Vaterpunkt, der Mutterpunkt und der Todespunkt.
Im weiteren Sinne bezeichnet man andere Horoskop-Punkte ebenso als "sensitiv", beispielsweise Lilith, die Mondknoten oder den vorgeburtlichen Neumond. Auch Aszendent und Medium Coeli sind im Grunde sensitive "Punkte" (d.h. ohne einen zugrunde liegenden konkreten Raumkörper).
Man unterscheidet zudem die individuellen und die mundanen Sensitiven Punkte.
Bezeichnung
In der hellenistischen Astrologie gängige Bezeichnungen sind:
- "Los" (griech. κλῆρος), in Anspielung auf Lose, die man warf, um die Götter etwas entscheiden zu lassen;
- "Teil" (lat. pars, griech. μέρος), wobei es sich eigentlich um einen terminus technicus für "Grad des Tierkreises" handelt;
- "Ort" (lat. locus).
In der modernen Astrologie spricht man dagegen eher von "Punkten". Karl Brandler-Pracht nennt 1905 den schon aus der Antike bekannten Glückspunkt „bedeutsamer Punkt".[2] Ein paar Jahre später, 1909, verwendet er den Begriff „Sensitiver Punkt" erstmals in der deutschen Astrologie-Literatur. Er schreibt: „Gewisse Stellen des Tierkreises resp. der Ekliptik gelten für gewisse Beziehungen im Menschenleben als von großem Einfluss. So entspricht dem II. Haus der Punkt Glück (auch Glücksrad genannt, Kreis mit darin enthaltenem Kreuz) und der Punkt für Vermögen; dem III. Hause der Punkt für Geschwister; dem IV. Hause der Punkt für den Vater ... Die ‚sensitiven auch bedeutsamen Punkte‘ sind eine astrologische Hypothese; sie bildeten seit jeher einen Streitfall der gelehrten Astrologen."[3]
Individuelle Sensitive Punkte
Berechnung
Die persönlichen Sensitiven Punkte werden aus der Position zweier Planeten sowie des Aszendenten oder des Medium coeli errechnet.
Man rechnet zunächst die Positionen der beteiligten Planeten in Gradzahlen von 0° bis 360° um, ausgehend von 0 Grad Widder. So entspricht beispielsweise ein Aszendent auf 9 Grad Löwe 129 Grad, eine Sonne auf 4 Grad Stier erhält 34 Grad, und ein Mond auf 6 Grad Wassermann ergibt 306 Grad.
Für den Glückspunkt wird die Mondposition zu derjenigen des Aszendenten dazugezählt und die Sonnenposition wiederum davon abgezogen. Das ergibt in unserem Beispiel: 129 + 306 - 34 = 401 Grad. Da der Tierkreis nur 360 Grad umfasst, lautet das Endergebnis 41 Grad (401-360). Dies entspricht dann 11° Stier.
Nach Ansicht der hellenistischen und arabischen Astrologen gilt die obige Berechnung jedoch nur für Taggeburten. Bei einer Nachtgeburt ist die Rechnung umzudrehen: Man addiert die Sonne zum Aszendenten und subtrahiert dann den Mond. Das gibt dann in unserem Beispiel: 129 + 34 - 306 = -143; 360 - 143 = 217 = 7° Skorpion.
Arabische Punkte und griechische Lose in der englischen Astrologietradition
Im englischsprachigen Raum gibt es eine relativ ungebrochene Tradition bezüglich der Sensitiven Punkte, da einige Werke arabischer und lateinischsprachiger Autoren aus dem Lateinischen schon vor langer Zeit ins Englische übersetzt wurden, z.B. Guido Bonatus und Al Khayyat. Eine vergleichbare Übersetzung in die deutsche Sprache erfolgte nicht. Eine für die englischsprachige Tradition wichtige Quelle ist der mittelalterliche arabische Astrologe Al Biruni (11. Jahrhundert).
Außerdem sind in jüngerer Zeit Publikationen amerikanischer Autoren erschienen, die die Sensitiven Punkte der hellenistischen Astrologie beschreiben, die sogenannten Greek Lots (Griechische Lose).
In der englischsprachigen Astrologie der letzten Jahrzehnte fand zudem eine Inflation der Sensitiven Punkte statt, da viele Autoren dazu übergingen, nicht nur die Planeten zu den Haupt-Kardinalpunkten Aszendent und Medium Coeli ins Verhältnis zu setzen, sondern u.a. auch zu den Zwischenhäuserspitzen, sowie zu den beiden anderen Kardinalpunkten Deszendent und Imum coeli. Hierdurch wird zwar die Vielfalt der möglichen Aussagen sicher größer, jedoch auch beliebiger, da sich so immer ein passender Sensitiver Punkt findet, um jedes manifeste Ereignis begründen zu können.
Sensitive Punkte nach Armin Wodan
Die Zuordnung der sensitiven Punkte durch Armin Wodan beruht auf einer Erweiterung der klassischen Punkte. Nicht nur hat Wodan auch Uranus und Neptun mit berücksichtigt (Pluto war damals erst frisch entdeckt), darüber hinaus nahm er auch eine Differenzierung vor, je nachdem, in welchem Element ein Punkt steht.
Die Anwendung der Punkte soll nach Wodan nicht nur auf die Radix erfolgen, sondern vor allem auch für Progressionen und Direktionen angewendet werden, da sich hier sehr viel differenziertere Aussagen im Horoskop erreichen lassen. Vor allem ändert sich die Bedeutung eines jeden Punktes, je nachdem, in welches Element er gerade wandert, oftmals grundlegend. Eventuell könnte die Anwendung nach diesem System zumindest für längerfristig wirksame Transite ebenfalls wirksam sein. Ganz entsprechend der Ansicht der Psychologischen Astrologie sollen die Punkte, die negative Eigenschaften beschreiben, auch als Warnung dienen können, eben diese negative Auswirkung zu umgehen, zu vermeiden, oder in Positives zu transformieren.
Wodan übernahm von Frank Glahn ein relativ strenges Kriterium bezüglich der Gültigkeit und Qualität der sensitiven Punkte: "Frank Glahn verlangt in seinem Buche den Nachweis und wenigstens 80-90 Prozent Treffer der "sensitiven Punkte". Beides wurde durch jahrelange Erfahrung in eigner Praxis erbracht".
Sensitive Punkte der sieben Planeten nach verschiedenen Methoden
Eine wichtige Rolle spielen sieben Sensitive Punkte, die jeweils den sieben Planeten zugeordnet sind. Es sind jedoch bereits seit der Antike zum Teil unterschiedliche Berechnungsmethoden für sie in Umlauf. So geben etwa Paulus Alexandrinus[4] und Firmicus Maternus[5] (beide 4. Jh. n. Chr.) verschiedene Definitionen für die dem Merkur und der Venus zugeordneten Lose des Eros und des Zwanges an. Außerdem werden in der modernen deutschen Astrologie (Brandler-Pracht, Armin Wodan) die fünf Punkte von Merkur bis Saturn anders berechnet als bei allen hellenistischen Astrologen und bei Al-Biruni.
Die folgende Tabelle fasst die Unterschiede zusammen:
Astrodienst bietet eine Zeichnungsmethode "Arabische Punkte/Al-Biruni" (APA) mit Zusatzblättern an, auf denen diese und weitere Punkte nach Al-Birunis Methode berechnet werden; außerdem auch eine Zeichnungsmethode "Hellenistisch" (HE), bei welcher die Sensitiven Punkte nach Paulus Alexandrinus berechnet werden.
Tabellen
Tabelle der Sensitiven Punkte in der Hellenistischen Astrologie
Bei Sensitiven Punkten, die mit Stern (*) markiert sind, gilt die angegebene Formel nur für Taggeburten. Bei Nachtgeburten sind alle Vorzeichen umzukehren (+ zu - und - zu +).
Tabelle der Sensitiven Punkte nach Al-Biruni
Bei sensitiven Punkten, die mit Stern markiert sind, gilt die angegebene Formel nur für Taggeburten. Bei Nachtgeburten sind alle Vorzeichen umzukehren (+ zu - und - zu +).
Tabelle nach Wodan
Alle Sensitiven Punkte sind nach der Tagformel angegeben. Für Nachtgeburten (also mit der Sonne unterhalb der Horizontachse) bzw. um die Nachtformel zu erhalten, ist die Reihenfolge der beiden Planetenstände, die voneinander subtrahiert werden, zu tauschen.
Die "kabbalistische Zahl" ist eine Art von Ordnungszahl, welche dadurch entsteht, dass der Sonne die Ziffer 1, dem Mond die 2, etc. zugewiesen wird.
Der jeweils fett unterlegte Begriff zeigt den Hauptnamen des Punktes an, z.B. Punkt 17 = Vaterpunkt.
Mundane Sensitive Punkte
Die bekanntesten mundanen Sensitiven Punkte sind der absteigende und aufsteigende Mondknoten, also die Schnittpunkte der Mondbahn mit der Ekliptik. Sie gelten als "Ursprung", im karmischen Sinne "Herkunft", auch "Kraftquelle" (absteigender Mondknoten) bzw. "Zielpunkt", "karmische Zukunft" oder auch der Punkt, an dem die individuelle Kraft eingesetzt wird (aufsteigender Mondknoten). Ebenso wie für den Mond können auch die Schnittpunkte der Planetenbahnen mit der Ekliptik berechnet werden (Planetenknoten). Sie werden vergleichbar den Mondknoten gedeutet, nur eben verknüpft mit der Energie und Bedeutung der jeweiligen Planeten. Insbesondere Tony Bonin arbeitete viel mit diesen Punkten.
Weit verbreitet im Deutungsrepertoire der Astrologie ist auch Lilith, die üblicherweise als das Apogäum der Mondbahn definiert ist, und gedeutet wird als eine tiefgründige urweibliche Kraft, aber auch als Energie oder Lebensqualität, die willentlich nur schwer erreichbar ist.
Desweiteren gibt es noch den Apex, der als Zielpunkt der Bewegung des gesamten Sonnensystems definiert ist, und als Zielrichtung des Lebens gesehen wird, sowie das Galaktische Zentrum, das als Punkt der Stabilität gilt. Diese beiden Punkte werden, vermutlich weil sie nicht direkt mit den Positionen der Himmelskörper unserers Sonnensystems verknüpft sind, in der astrologischen Deutung bisher nur selten berücksichtigt.
Hamburger Schule
Alfred Witte entwickelte aus dem Glückspunkt der Antike (Vettius Valens zitiert Nechepso-Petosiris) eine algebraische Formel: a + b = c + x, die er später Planetenbild nannte. Er fand damit einen Ansatz zur Auswertung des Horoskops: hinter den vordergründig sichtbaren geometrischen Darstellungen befinden sich Konstellationen, die wie algebraische Gleichungen gelesen werden können.
Witte hebt speziell hervor:
- Erdhoroskop IV. Haus Steinbock
- Sonnenhoroskop IV. Haus Sonne in der Radix
- Meridianhoroskop X. Haus
- Geburtsort und das Horoskop des Aszendenten[6]
Auch die von der Hamburger Schule verwendeten Transneptuner werden, da ihr physikalischer Nachweis bis heute nicht erfolgte, es mit ihnen jedoch schon eine jahrzehntelange Erfahrung gibt, inzwischen meist als "Sensitive Punkte" bezeichnet.
Siehe auch
Weblinks
- Zur Berechnung und Darstellung in der Horoskopgrafik: Zeichnungsmethode: Astrodienst mit arabischen Punkten (>Erweiterte Grafikauswahl >PDF Kostenlose Datenblätter) (Astrodienst)
- Englische Wikipedia: Arabic Parts
- Fortune, Spirit and the Lunation Cycle (David Plant, 1995/ 2004; Skyscript)
- Arabic Parts Calculator (libracentre.com; Sensitive Punkte nach Al Biruni)
- Al Biruni's List of Parts (Deborah Houlding, 2004)
- Arabic Parts & Lots (Englische Seite, 2002)
- The Lot or Part of Fortune (Robert Hand, 1996)
- List of Arabic Parts (P.F. Anderson)
- Ausführliche Liste von fast vierhundert Punkten, mit genauen Literaturangaben (siehe 'Sources') und Erklärungen zur Berechnung
- Signification and Philosophy of the Lots/ Arabic Parts (astrology-x-files.com; Curtis Manwaring, 1999-2002)
- Bibliographie zum Thema Sensitive Punkte und Tierkreisgrade (Claudia von Schierstedt)
Literatur
Individuelle Punkte
- Renzo Baldini: Die Arabischen Punkte: Ihre Anwendung in der modernen Astrologie. Aus dem Italienischen übersetzt von Christoph Schubert-Weller. Chiron Verlag, Tübingen 2008. ISBN 3899971620 Leseprobe
- Karl Brandler-Pracht: Die sensitiven Punkte in der Astrologie. Chiron Verlag 2001 ISBN 3925100660 (Unveränderter Nachdruck der Auflage von 1936)
- Andrea Buchholz: Der geheime Code. Die sensitiven Punkte in Ihrem Horoskop. Silberschnur Verlag 2006 ISBN 3898451534
- Robert Zoller: Astrologie und Zahlenmystik - Die arabischen Punkte im Horoskop. Hugendubel Verlag Kreuzlingen/ München 1989 ISBN 3880344124
- Bernadette Vianden: Die sensitiven Punkte im Horoskop. Ihre Bedeutung und Anwendung in der modernen Astrologie. 100 Seiten. Chiron Verlag, Tübingen 2016
- Al-Biruni: The Book of Instruction in the Elements of the Art of Astrology (übersetzt von R. Ramsay Wright), 1934; Kessinger Pub 2010, 352 Seiten ISBN-10 1162632496, ISBN-13 978-1162632490;
2004, ISBN 9780766193079
- Dorian Gieseler Greenbaum: The Daimon in Hellenistic Astrology: Origins and Influence, Brill 2015
Mundane Punkte
- Theodor Landscheidt: Fixsterne, Aspekte und galaktische Strukturen. Ebertin-Verlag Aalen 1965
- Armin Wodan: Astrologie - Die Krone aller Wissenschaften. Reformation der Theologie, Philosophie, Medizin, Justiz
- Wodans "72 sensitive Punkte und ihre wunderbare Deutung"; dazu Horoskop-Zeichnung von Goethe. Erweiterung und Abklärung der "Punkte" in den 4 Elementen. Wodania, L. Richter Verlag, Leipzig 1932, online als PDF (top-astro.de)
Anmerkungen und Quellen
- ↑ Sebald Behaim, 1541
- ↑ Karl Brandler-Pracht, Mathematisch-instruktives Lehrbuch der Astrologie, Leipzig, 1905, S. 44, 87
- ↑ Karl Brandler-Pracht, Die sensitiven Punkte der Ekliptik, in: Zodiakus, 1. Jahrgang, Heft 1, Juli 1909, S. 7, Paul Lorenz Verlag, Freiburg
- ↑ Paulus Alexandrinus, Introductory Matters, Project Hindsight, Greek Track vol. I, 1993, Kap. 23, S. 46ff. Paulus beruft sich auf ein verlorenes Werk des Hermes Trismegistos unter dem Titel Panaretos.
- ↑ Firmicus Maternus, Matheseos libri VIII., VI.32.45f. (nach der lat. Ausgabe von Kroll, 1913)
- ↑ Alfred Witte: „Sensitive Punkte", in: Astrologische Rundschau, 10. Jahrgang 1919, Heft 1-3, S. 26, Theosophisches Verlagshaus, Leipzig